1Live und der WDR – ganz weit weg und doch vorne mit dabei
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine starke Marke mit vielen starken Produkten. Und nun wollen Sie ein neues Produkt einführen. Sie haben schon eine grandiose Idee, was Ihr Produkt sein wird, Ihnen fehlt jedoch die eine entscheidende Antwort auf die wohl wichtigste Frage: Wie positionieren Sie Ihr neues Produkt in Bezug auf die bereits existierenden? Pappen Sie Ihr Logo auf Ihr neues Produkt wie auch schon bei Ihren Erfolgsprodukten und das war’s?
In der Positionierungslehre gibt es den Ansatz, ein Produkt in ein Diagramm
mit zwei Achsen (zwei Merkmale) oder einer Skala von nur einer Achse (ein Merkmal) einzusortieren. Ganz beliebt ist das bei Automarken. In ein Diagramm mit den Achsen [Preis,Modernität] lassen sich so unzählige Automarken einzeichnen.
Kriterien für eine erfolgreiche Positionierung des neuen Produktes liegt in der Marke und in der Positionierung der existierenden Produkte. Zentrale Fragen sind:
- Wofür steht die Marke? Welche Zielgruppe konsumiert sie?
- Fügt sich das neue Produkt in den Raum der bisherigen gut ein? Passt also auch hier die Marke und die Zielgruppe?
Falls nein: Trauen Sie sich, eine neue Marke einfallen zu lassen!
Ich verdeutliche es an einem Beispiel, das viele aus Westdeutschland gut nachvollziehen können.
Der WDR betreibt seit jeher einige Radiostationen. Wie fast in jeder ARD-Anstalt splitten sich die Radiosender anhand ihrer Zielgruppe (meist das Alter) auf. Natürlich gab es einen Sender für junge Hörer mit dem Namen WDR 1. Anfänglich war dieser Sender ein Info-Kanal, Mitte der 80er wurde er stetig zur Jugendwelle ausgebaut. Doch so richtig kam der Sender nie an – die junge Welle hatte er nur eine geringe Reichweite und war eine Enttäuschung.
Was war hier wohl passiert? Es fand eine Umpositionierung des Radiosenders statt, die sich nicht im Sendernamen widerspiegelte. Die Marke WDR 1 war weiterhin in den Köpfen – als Info-Kanal, aber nicht als Programm für junge Leute.
Junge Menschen assoziierten mit dem Namen WDR 1 einen altbackenen, kaum von WDR 2 bis drölf zu unterscheidenden Sender – und dieses Urteil kam zustande, ohne in den Sender reingehört zu haben! Schublade auf, WDR 1 rein und für immer zu. Denn hat der Konsument erst einmal über ein Produkt ein Urteil gefällt, bleibt die Schublade verschlossen. Und das alles nur wegen des Sendernamens!
Was hat nun der WDR unternommen? Er vollzog Mitte der 90er ein Rebranding samt Namensänderung, taufte seine flippige Welle 1Live und positionierte sie wortwörtlich weit weg vom WDR. Denn neben dem Namen hatte ab 1997 auch der Sitz nichts mehr mit dem WDR zu tun, denn 1Live sollte fortan im Kölner Mediapark sitzen – ein paar Kilometer vom WDR-Haupthaus entfernt.
War die Umpositionierung geglückt? Ja, 1Live wurde die Jugendwelle in NRW schlechthin auch weil es mit neuem Namen als Jugendradio wahrgenommen wurde. 1Live war eine der reichweitenstärksten Radiowellen Deutschlands. Auch für Künstler war der WDR-Sender wichtig: Wer im Musikbereich großwerden wollte, musste die 1Live-Musikredaktion überzeugen.
Viele Hörer assoziierten 1Live nicht mit dem WDR. Sie hielten es auch dank der Werbeunterbrechung für ein Privatradio mit schnellem, jungen Programm.
Und heute?
1Live hat sich weiterentwickelt. Nun schreibt sich der Sender 1Live (zuvor einst Einslive oder auch Eins Live), im Logo vermerkt sich der WDR, die Studios zogen wieder zum WDR-Hauptgebäude. Und inhaltlich entwickelt sich der Sender weiter in Richtung der Privatradios. Durchhörbarkeit und Wortbeiträge mit 3:30 Länge lassen grüßen. Es fehlen nur noch Gewinnspiele um ein geheimnisvolles Geräusch.
Aber von der neueren Entwicklung abgesehen, ist 1Live ein Paradebeispiel dafür, wie auch Sie Ihr neues Produkt, das de facto kaum Gemeinsamkeiten mit Ihren jetzigen Produkten hat, zum Erfolg verhelfen können – positionieren Sie es weit weg von Ihren bisherigen Produkten.
Ja, das schmerzt. Vor allem schmerzt es, wenn Sie eine starke Marke haben und das Image zum neuen Produkt transferieren wollen. Aber seien Sie gewarnt. Wenn das neue Produkt nur wenig bis nichts mit den bisherigen Produkten und der bekannten Marke zu tun hat, sind Sie mit einer neuen, frischen Marke besser bedient. Das weiß der WDR seit dem Erfolg von 1Live auch.